Gerade begannen sich die Türen des Aufzugs zu schließen, als eine Hand sich in den Spalt drängte. »Warten Sie! Ich will auch noch mit.« Der junge Buchhalter der Abteilung schob die Türen auseinander, sodass die Automatik den Schließvorgang unterbrach und den Zugang zum Fahrstuhl wieder öffnete.
Stefan Holzmann, zweiter Vorstandsvorsitzender der Palindrome AG, wäre lieber allein nach unten gefahren. Der junge Mann, der erst seit einigen Wochen hier arbeitete, und dessen Namen er sich nicht hatte merken können, war ihm zwar nicht unsympathisch, dennoch war er gerade heute nicht für Smalltalk aufgelegt. Holzmann wollte nur seine Ruhe.
Leider teilte sein Mitfahrer diesen Wunsch nicht. »Endlich in’s wohlverdiente Wochenende?«
Holzmann lächelte gequält. Für ihn wäre es kein entspanntes Wochenende. Der Vorstand hatte für Montag Früh eine Konferenz angesetzt, in der eine wichtige Entscheidung anstand. Er musste sich in den nächsten zwei Tagen darauf vorbereiten. Eigentlich stand sein Standpunkt fest, und er wusste, dass seine Stimme bei der geplanten Abstimmung den Ausschlag geben würde. Er rechnete mit einigen Anrufen, von anderen Leuten aus der Chefetage, die versuchten ihn umzustimmen. Glücklicherweise war die Kabine bereits im Foyer angekommen, bevor sein Mitfahrer nachhakte.
»Dann wünsche ich ein schönes Wochenende!«, rief der junge Mann über die Schulter, und lief mit dynamischen Schritten in Richtung Ausgang, noch ehe Holzmann irgendetwas erwidern konnte.
Der Parkplatz war um diese Zeit fast leer. Die meisten der Angestellten hatten die Firma vor Stunden verlassen. Holzmann hatte eine Autofahrt von 20 Minuten vor sich, die ihn über die Autobahn zu seiner etwas abseits gelegenen Villa führte. Wenigstens würde die Fahrt angenehm werden, schließlich hatte er den hochmodernen Wagen erst vor drei Wochen bekommen, und er verströmte diesen ansprechenden Neuwagengeruch, der ihn daran erinnerte, welche Vorteile seine hochbezahlte Position mit sich brachten.
Nachdem er vom Parkplatz gefahren war, schaltete er mit einer kurzen Berührung des futuristischen Displays das Entertainment-System ein. Das Fahrzeug hatte die Vorlieben des Besitzers gespeichert, und aus den sieben Qualitätslautsprechern ertönte nun Holzmanns Lieblingsmusik. »Zu Hause anrufen!«, rief er in den Fahrgastraum hinein.
»Guten Abend Herr Holzmann, Ich verbinde Sie mit zu Hause«, meldete sich eine angenehme weibliche Stimme, die ihm normalerweise die Anweisungen des Navigationssystems weitergab. Nach wenigen Sekunden wurde die Musik leise und es ertönte eine andere Frauenstimme: »Hallo Schatz! Ist es wieder später geworden?«
»Ja, Liebling. Die Sitzung hat lange gedauert. Ich bin gleich auf der Autobahn. Magst du mit dem Abendessen noch warten? Ich bin in 20 Minuten bei dir.«
»Kein Problem! Bis dann.«
»Bis dann!«, beendete Holzmann den Anruf. Er wusste, dass seine Frau sich sorgte, wenn er nicht anrief. Die Musik wurde erneut lauter und er begann, sich zu entspannen. Der Wagen verfügte über die neuste Technik, und so musste er weder auf die Geschwindigkeit, noch auf die Lenkung achten, nachdem er auf die Autobahn aufgefahren war. Die Assistenzsysteme erledigten fast alles automatisch. Ein Tempomat regelte, wie schnell er fuhr. Eine Kamera achtete für ihn auf Schilder, die eine Geschwindigkeitsbegrenzung anzeigten, und verlangsamte das Gefährt bei Bedarf. Der Spurhalte-Assistent erkannte die Fahrstreifen auf dem Asphalt und hielt das Auto in der Spur. Dieser Teil der Autobahn war generell wenig befahren. Er war gegenwärtig praktisch allein unterwegs. Bis zur Ausfahrt könnte er sich entspannen und der Musik lauschen.
Doch da sah er, wie sich von hinten ein roter Sportwagen mit dunkel getönten Scheiben schnell näherte. Idiot!, dachte sich Holzmann, als er das Fahrzeug rasant näherkommen sah. Es setzte auch direkt zum Überholen an und zog zügig links an ihm vorbei. Zumindest sah es zunächst so aus, denn als der Wagen ungefähr auf gleicher Höhe mit ihm war, verringerte der Fahrer die Geschwindigkeit, sodass er nun neben ihm fuhr. Holzmann wunderte sich, warum dieser Raser plötzlich langsamer wurde. Vielleicht hat er ein Problem mit dem Motor? Normalerweise würde er dann erwarten, dass sich das Fahrzeug wieder hinter ihn einreihte. Holzmann reiste aus Prinzip nicht übermäßig schnell. Es gab hier keine Geschwindigkeitsbeschränkungen, dennoch hatte sich Holzmann angewöhnt, den Regler lediglich auf 120 Stundenkilometer einzustellen, denn er hielt nichts von unnötiger Raserei.
Vielleicht sollte er einfach sein Tempo verringern, dann könnte der andere Wagen doch noch überholen. Er schaltete den Tempomaten ab und übernahm wieder selbst die Kontrolle. Als er den Fuß vom Gaspedal abhob, merkte er, dass der Wagen nicht langsamer wurde. Er tippte die Bremse vorsichtig an, doch auch das änderte nichts. Holzmann war plötzlich hellwach und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Ein Blick auf das Armaturenbrett zeigte eine blinkende, rote Schrift mit dem Text »Diagnosemodus.« Er trat fester auf das Bremspedal, bis sein Fuß den tiefsten Punkt erreicht hatte. Keine Wirkung! Der Sportwagen war immer noch neben ihm. Ob er vielleicht etwas damit zu tun hatte? Der Tacho wies eine Geschwindigkeit von nur 20 Stundenkilometern aus, obwohl die Leitplanken mit einem rasenden Tempo vorbeiflogen. Er musste inzwischen bestimmt auf 180 sein, doch das Display blinkte immer noch: »Diagnosemodus.«
Langsam stieg in Holzmann Panik auf. Er hatte Mühe, das Lenkrad ruhig zu halten. Offenbar war auch der Spurhalte-Assistent ausgefallen und er musste das Fahrzeug irgendwie auf der Fahrbahn halten. Tatsächlich wurde er immer schneller. Er war nie mit einem solchen Tempo unterwegs, bei dem er das Auto nur mit Mühe auf der Straße halten konnte. Nun erschien eine neue Meldung auf dem Display: »Parkassistent.«
Der Tacho zeigte an, dass sein Wagen zum Stillstand gekommen war, obwohl der aufheulende Motor ihm die deutliche Botschaft schickte, er dürfte inzwischen die Höchstgeschwindigkeit erreicht haben. Etwa zweihundert Meter vor ihm querte eine Fußgängerbrücke die Autobahn. Jetzt bloß nicht in der Konzentration nachlassen! Eine unbedachte Bewegung, ein leichtes Zittern, konnte ihn sofort von der Straße fegen. Da hörte er das Signalgeräusch des Parkassistenten. Auf dem Display stand: »Bitte nehmen Sie die Hände vom Lenkrad! Ihr Wagen wird eingeparkt.« Was sollte das? Der Wagen würde doch nicht bei 250 Stundenkilometern einen Parkvorgang starten. Was war hier los?
Noch bevor er den Gedanken beendete, spürte er, wie sich das Lenkrad ruckartig nach rechts bewegte. Im nächsten Augenblick sah er auch schon den Betonpfeiler der Fußgängerbrücke auf sich zukommen …«
Der junge Mann im Sportwagen pfiff leise durch die Zähne. 265 Stundenkilometer! Ganz ordentlich für so ein Bonzenauto, dachte er sich. Er verlangsamte sein Tempo auf gemütliche 130 und schaltete das Gerät, dass er auf dem Beifahrersitz platziert hatte, aus. Den portablen Diagnosecomputer mit Bluetooth-Sender würde er erst einmal eine Weile nicht brauchen. Er zog ein billiges Wegwerfhandy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
»Auftrag erledigt! … Nein, es wird wie ein Unfall aussehen. … Keine Sorge, der wird am Montag nicht mehr Abstimmen können.«
Nachdem er das Telefonat beendet hatte, wischte er das Telefon mit einem Tuch gründlich ab und warf es aus dem Fenster. Nun konnte er sich mit seinem neuen Sportwagen erst einmal ein schönes Wochenende machen. Am Montag müsste er dann wieder in der Buchhaltung auftauchen, um vom tragischen Tod des Vorstandsmitglieds zu erfahren. Irgendwann würde er kündigen, und sich mit dem Geld irgendwo zur Ruhe setzen.
Anmerkungen des Autors:
Unheimlich? Vielleicht!
Unwahrscheinlich? Keineswegs!
Bei den Recherchen zu dieser Kurzgeschichte bin ich auf einige beunruhigende Berichte gestoßen. Dieses YouTube-Video zeigt, wie ein bestimmtes Modell eines Autoherstellers per Internet gehackt und übernommen werden konnte: https://youtu.be/MK0SrxBC1xs
Das Video ist zwar komplett in Englisch, das Prinzip ist aber leicht verständlich, auch wenn man die Sprache nicht beherrscht.
Weiterhin berichtete der Spiegel über mögliche Angriffe mithilfe des Funksystems »Bluetooth,« die ich auch für meine Kurzgeschichte gewählt habe: http://www.spiegel.de/auto/aktuell/hacker-koennen-autos-ueber-funkverbindungen-aus-der-ferne-angreifen-a-985464.html
Auch die Computerwoche berichtete im letzten Jahr über mögliche Sicherheitslücken bei modernen Fahrzeugen: https://www.computerwoche.de/a/so-gehen-die-auto-hacker-vor,3215159
Spannend und mit überraschendem Twist. Technisch glaube ich dir alles, wundere mich aber, wie blöd so ein Computer sein soll. Es muss doch eine Sensorik oder Kontrolle für die Geschwindigkeit geben, die den Parkmodus nicht zulässt. Vor zu viel Elektronik habe ich Bammel, möchte auch kein Smart House haben.
Danke für den Kommentar, Gabriele. Der Parkmodus bei vollem Tempo ist natürlich für die Story frei erfunden. Als Softwareentwickler und Beobachter der Szene, wäre so etwas allerdings nicht ganz auszuschließen, da gerade bei guten Mitarbeitern oft gespart wird. Wenn also die Software „glaubt,“ dass der Wagen steht, dann steht der Einparkhilfe eigentlich nichts mehr im Weg. Zusätzliche Sicherungen werden gern mal aus Kostengründen eingespart. Wichtig scheint mir, dass die Autoindustrie ihre Diagnosesoftware anfangs nicht gegen Fremdzugriffe abgesichert hatte, bis diese ersten Hacks aufgetaucht sind.
Es ist eine spannende, kleine, rasante Geschichte.
Sie gefällt mir!
Ich würde dafür gerne den Kommentar hinterlassen:
„Die Tücken, der modernen Technik“
Danke für den Kommentar. Recht hast du mit „Tücken der Technik“. Freut mich, dass dir die Story gefallen hat.