Heute erscheint der vierte und letzte Teil der Kurzgeschichte. Den ersten Teil findet ihr hier: Der außerirdische Besucher – eine vegane Kurzgeschichte (Teil 1)
Mein Alien stand pünktlich zum Feierabend vor dem Eingangsportal, sodass wir uns gleich auf den Weg machten. Als umweltbewusster Mensch besaß ich kein Auto, also nahmen wir den Bus Richtung Wohnsiedlung. Kaminski schien recht aufgeregt, vermutlich kaufte er auf seinem Planeten nicht oft ein. Ständig befasste er sich mit dem Tablet, machte fortwährend Fotos oder Videos von der Umgebung und den Menschen. Es fing bereits an, peinlich zu werden, daher war ich froh, dass die Busfahrt nicht lange dauerte. Wir stiegen eine Haltestelle früher aus, weil wir ja noch einkaufen wollten. Da sich die Ladenzeile auf der anderen Straßenseite befand, liefen wir ein Stück bis zum Fußgängerüberweg, der uns dann direkt zum Eingang des Gebäudes führte.
Am Überweg angelangt, wischte und tippte Kaminski immer noch, sodass er im Laufschritt direkt über die Straße lief. Bevor ich ihm etwas zurufen konnte, stand er auch schon mitten auf dem Zebrastreifen, während gerade eine ältere Dame mit ihrem weinroten Mercedes darauf zufuhr. Offenbar achtete sie nicht auf den Verkehr, denn sie war in diesem Moment damit beschäftigt, eine intensive Diskussion am Handy zu führen. Das Auto erfasste Kaminski, und er wurde etliche Meter nach vorn geschleudert. Die Fahrerin stoppte den Wagen, ließ ihr Telefon fallen, stieg aus und blickte mit kreideweißem Gesicht auf den Verletzten.
»Er ist mir einfach vor den Wagen gesprungen«, stammelte sie.
Kaminski lag mit merkwürdig verdrehten Beinen auf der Fahrbahn und zuckte leicht. Ich zog mein Smartphone aus der Tasche, um den Notruf zu wählen, da hüllte den Besucher ein helles Licht ein. Innerhalb weniger Sekunden verschwand er spurlos. Als die Frau dies sah, brach sie direkt neben ihrem Fahrzeug auf der Straße zusammen. Auch für mich kam eine solche Entwicklung überraschend. Da ich aber wusste, dass er ein Alien war, hielt sich der Schock bei mir in Grenzen. Ich rief also einen Rettungswagen, der die Fahrerin zehn Minuten später einlud und abtransportierte.
Die Polizei erschien kurz darauf. »Was ist passiert?«, fragte der Beamte.
»Ich habe keine Ahnung. Die Dame hat wohl irgendetwas angefahren und ist ohnmächtig geworden«, sagte ich. Was hätte ich auch sonst erzählen sollen? Ich überließ es der bewusstlosen Frau, sich mit ihrer Geschichte zum Narren zu machen, wenn sie wieder zu sich käme. Der Polizist nahm schließlich meine Personalien auf, und dessen Kollege fuhr den Mercedes von der Straße. Nun stand ich ziemlich ratlos da. War Kaminski noch am Leben? Wurde er von seinen Alien-Freunden irgendwie wegtransportiert wie in dieser Weltraumserie im Fernsehen? Ich wollte gerade den Heimweg antreten – für diesen Abend war mir der Appetit vergangen –, da fiel mir ein schwaches Glitzern neben dem Autoreifen eines Wagens auf, der nahe dem Zebrastreifen parkte. Ich bückte mich und fand das Gerät, das Kaminski ständig benutzt hatte. Es musste beim Aufprall bis hierher geschleudert worden sein. Ich hob es auf und nahm es mit nach Hause. Schließlich sollte man keine fortgeschrittene Alien-Technologie auf der Straße herumliegen lassen!
Zuhause angekommen untersuchte ich den Apparat genauer. Er ähnelte sehr den Tablets, die man überall kaufen konnte. Als ich darüberwischte, erwachte er zum Leben. Scheinbar hatte ihm der Unfall nicht geschadet. Das Display zeigte einen zweigeteilten Bildschirm. Auf der linken Seite erkannte ich für mich unlesbare Zeichen, rechts las ich den Eintrag: »Fußgängerüberweg auch Zebrastreifen genannt. Kann gefahrlos überquert werden.« Ich musste laut auflachen.
Es gab weitere Symbole, die ich aber nicht verstand. Ich tippte auf das erste und ein Text erschien, der nicht lesbar war, offenbar in Kaminskis eigener Sprache verfasst. Eine ähnliche Schrift hatte ich gerade schon einmal gesehen, das Tablet diente also als Übersetzer. In der unteren rechten Ecke befand sich ein kleines Icon mit einem Doppelpfeil. Ich war neugierig und berührte es. Innerhalb von Sekunden wechselte die fremde Sprache, und ich vermochte die Zeilen zu entziffern. Die Aufteilung erinnerte an eine E-Mail mit Adressfeld, einem längeren Text und einer Schaltfläche zum Absenden.
»Vorläufiger Bericht zum Testobjekt Erde, dritter Planet von Stern M385. Die dominierende Spezies zeigt Ansätze von Intelligenz. Direkte Kommunikation über Schallwellen und optische Symbole ist möglich. Prognose: wird sich durch Überbevölkerung und Änderung der Klimaverhältnisse selbst ausrotten. Empfehlung: Ausdünnung durch Bejagung. Einzelne Individuen sind bedingt zum Verzehr geeignet, der Großteil dürfte sich aber nur als Futter für unsere Zuchtbetriebe eignen, da der Fettanteil überdurchschnittlich hoch ist. Private Anmerkung an meine Frau: Hallo Schatz, ich bin bald zurück. Komische Essgewohnheiten haben die Leute hier. Wenn ich wieder zu Hause bin, brauche ich erst mal ein saftiges Steak!«
Ich spürte die Knie weich werden. Ganz langsam und vorsichtig legte ich das Gerät auf den Küchentisch, wobei ich sorgfältig darauf achtete, das Senden-Symbol nicht zu berühren.